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Das "big picture" in der Mobilitätsfrage


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Verkehrsforscher Professor Manfred Boltze (TU Darmstadt) spricht im Interview über die Mobilität der Zukunft und die Kasinostraße(Hauptverkehrsader mit neuerdings Tempo 30)  als funktional abschreckendes Beispiel.

DARMSTADT - Vernetzter, flexibler, kleinteiliger – Fortbewegung wird digitaler. Bereits jetzt verfügt Darmstadt über ein hochgerüstetes Managementsystem, um das Verkehrsaufkommen zu erfassen. Im Vergleich dazu sind Geschwindigkeitsbeschränkungen starre Maßnahmen, ihr Nutzen ist je nach Örtlichkeit umstritten. Dies hat die jüngste Debatte um Tempo 30 bewiesen. Verkehrsexperte Prof. Manfred Boltze erklärt, welches Ausbaupotenzial der ÖPNV hat, warum die Mobilität der Zukunft nicht gänzlich aufs Auto verzichten wird und die Kasinostraße Funktionen hat, die sie unmöglich vereinen kann.

Herr Professor Boltze, Darmstadt hat zweieinhalb Mal so viele Ein- wie Auspendler, in Normalzeiten sind die Straßen auch aufgrund der Durchpendler voll. Ist die Infrastruktur dafür eigentlich noch ausgelegt?

Aus heutiger Sicht kann man klar sagen, dass die Infrastruktur für den motorisierten Individualverkehr in dieser Menge nicht ausgelegt ist. Aber die Frage ist, mit welchen Verkehrsmitteln die Mobilität der Menschen abgewickelt werden soll.
Der Oberbürgermeister spricht gerne vom Modal Split, also der Verteilung auf verschiedene Verkehrsträger. Ist in Darmstadt mit 40 Prozent Kfz-Verkehr Verbesserungspotenzial vorhanden?

Verbesserungspotenzial gibt es sicher. Wie man verbessert, das hängt von unterschiedlichen Zielen und ihrer Gewichtung ab. Es ist zum Beispiel sicher keine gute Lösung, beim Umbau des Verkehrs einfach nur den Automobilverkehr zu erschweren und Kapazitäten dafür zu verringern. Wir wollen Mobilität ja nicht verhindern, und deshalb benötigen die Menschen attraktive Alternativen. Und dafür ist noch viel zu tun, nicht nur in Darmstadt selbst, sondern auch bei der Verbindung mit dem Umland. Insgesamt brauchen wir kleinteiligere Mobilitätsangebote. Bundesweit haben wir bisher etwa 20 Prozent ÖPNV-Anteil, und ich bin überzeugt, dass wir mit besseren Angeboten die gleiche Größenordnung nochmal zusätzlich abholen könnten.

Was heißt kleinteilig?

Damit meine ich ÖPNV-Angebote, die deutlich gezielter auf die individuellen Nutzerbedürfnisse eingehen können als die heute verbreiteten großen Fahrzeuge im fahrplangebundenen Linienverkehr. Wir bekommen ja gerade erste Angebote dieser Art, Anruf-Sammelverkehre mit kleineren Fahrzeugen, die uns zur gewünschten Zeit nah an der Wohnung aufnehmen und nah am Ziel absetzen können. Um die Menschen von der Autonutzung abzuhalten, müssen wir ähnlich bequeme und komfortable Angebote machen, auch was die Reisezeit anbelangt. In diesem Sinn sollten zum Beispiel auch Direktbusse aus dem Umland nach Darmstadt geprüft werden. Diese müssten dann mit sehr wenigen Halten und eigenen Fahrstreifen an Staustellen schneller sein wie die Autofahrt. Aber auch dabei gibt es Zielkonflikte, etwa wenn für einen separaten Busfahrstreifen einige Bäume gefällt werden müssen. So etwas sollte klar dargestellt und abgewogen werden.

Ihr Kollege Professor Peter Wagner meinte, dass man den heutigen Verkehr mit zehn Prozent der vorhandenen Fahrzeuge abwickeln könnte, denn die meiste Zeit stehen die Fahrzeuge ja bisher still.

Das kann ich im Grundsatz voll bestätigen. Es gilt aber nur, wenn wir kleine Fahrzeuge benutzen, die nicht von uns selbst gefahren werden, sondern als Sammeltaxi-Dienst zur Verfügung stehen. Wirtschaftlich ist das aber ein großes Problem. Solche kleinteiligen Fahrzeuge brauchen jeweils einen Fahrenden mit hohen Kosten für den Betreiber. Sammeltaxi-Dienste in großem Umfang aufzubauen, erscheint mir derzeit deshalb wirtschaftlich kaum möglich. Das autonome Fahren zeichnet sich aber am Horizont ab – und damit können wir auch den ÖPNV grundlegend umstrukturieren. Auch wenn die Fahrzeuge deutlich teurer sind, werden doch die Kosten für das Betriebspersonal weitgehend entfallen. Dann wird es zum Beispiel möglich, die hohe Nachfrage auf „Stammlinien“ mit großen Bussen zu bedienen und auf die Haltestellen einen automatisierten Zubringer- und Abbringerdienst einzurichten. Möglich wird es auch, gegen höhere Preise noch komfortablere Angebote zu schaffen, die Reisende direkt zum Ziel bringen oder Gruppen von Fahrgästen direkt befördern.

Würden solche Sammelfahrten nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen?

Kleine Umwege müssen die Reisenden dann schon in Kauf nehmen. Aber der zusätzliche Zeitbedarf kann nach unseren Simulationsstudien selbst im ländlichen Raum bei guter Routenoptimierung auf maximal 20 Prozent der direkten Fahrzeit begrenzt werden. Wenn man dann also von Zuhause abgeholt wird und statt 20 Minuten höchstens 24 Minuten braucht, wird das sicher von vielen akzeptiert, weil sie die Zeit während der Fahrt ja auch bequem nutzen können und keinen Parkplatz suchen müssen. Übrigens bin ich überzeugt, dass wir bei den autonomen Fahrzeugen in Zukunft auch ganz andere Fahrzeugtypen sehen werden. Kleine Fahrzeuge mit separaten Kabinen für Einzelpersonen oder kleine Gruppen bieten sich an, um mehr Privatheit zu ermöglichen – das ist nicht nur in Corona-Zeiten attraktiv.

Darmstadt digitalisiert seit Jahren seinen Verkehr: 180 Ampeln, 400 Kameras. Was bedeutet im Jahr 2021 eine moderne Verkehrsregelung?

Ich fasse das gerne in vier Punkten zusammen: Sie muss situationsabhängig sein, alle Verkehrsteilnehmer berücksichtigen, alle relevanten Kriterien aufnehmen und vernetzt sein. Situationsabhängig heißt, Witterungseinflüsse, Empfindsamkeit von Menschen gegenüber Lärm und Emissionen oder auch Störfälle und Großereignisse zu berücksichtigen. Zum Zweiten: Wir müssen uns mit Fußgängern, ÖPNV, Radfahrern, motorisiertem Verkehr und Schwerlastverkehr auseinandersetzen, ohne gleich zu sagen, dass diese oder jene Mobilitätsform das Maß aller Dinge wäre. Wir müssen Vorteile und Nachteile von Maßnahmen für alle im Verkehr abwägen, und dafür brauchen wir Informationen: Wenn ein Bus an einer Lichtsignalanlage bevorrechtigt werden soll, sollten wir zum Beispiel für die aktuelle Situation wissen, wie viele Personen gerade darin sind und wie viele andere Personen in den Autos oder als Fußgänger und Radfahrer dafür länger warten müssen.

Ist denn diese Wartezeit das Leitkriterium?

Die Wartezeit ist sicher ein wichtiges Kriterium – und diese personenbezogen zu erfassen, wäre eigentlich kompliziert genug. Daneben haben wir aber noch weitere Kriterien, zum Beispiel Kraftstoffverbrauch, Emissionen und Immissionen (Lärm, CO2, Luftschadstoffe) und Verkehrssicherheit. Da gilt es dann abzuwägen: Wie viel Wartezeit nehmen wir in Kauf, um einen Unfall zu vermeiden? Wollen wir wirklich die Radfahrenden zügig an der Hauptverkehrsstraße führen, wo sie ein höheres Unfallrisiko haben und den gesundheitsgefährdenden Luftschadstoffen viel stärker ausgesetzt sind als auf Nebenstraßen? Was passiert alles, wenn ein sogenannter „Pop up“-Radweg entsteht? Wie viele Radfahrende nutzen den tatsächlich? Sind Autofahrende wirklich auf Fahrrad und ÖPNV umgestiegen? Oder sind sie nur mit dem Auto auf andere Routen ausgewichen, haben Umwege gefahren und noch mehr Kraftstoff verbraucht? Oder bleiben sie zuhause und schwächen womöglich die wirtschaftliche Situation in der Innenstadt? Die Abwägung für eine gute Entscheidung ist also wirklich nicht trivial. Aber es lohnt sich durchaus, genauer hinzuschauen und auch den Aufwand für detailliertere Untersuchungen in Kauf zu nehmen. Mit heutigen Datenerfassungstechniken und Simulationsmodellen ist dazu schon viel möglich.

Angenommen, die Pandemie wäre vorüber: Ist es dann nicht schwierig, das Mobilitätsverhalten vorauszuahnen, da viele wegen des Infektionsrisikos den ÖPNV meiden?

Da haben Sie Recht, der ÖPNV wird länger brauchen, um die Fahrgastzahlen wieder mindestens auf das Niveau vor der Pandemie zu bringen. Aber die Pandemie hat auch viele Veränderungen in der Mobilität ausgelöst, und wir können das auch als Chance begreifen, dass sich Menschen in ihrem Mobilitätsverhalten neu positionieren. Zum Beispiel gibt es ja bereits viel mehr Radverkehr, und gerade jetzt besteht auch eine gute Gelegenheit, individuellere Nahverkehrsangebote wie Rufbussysteme und Sammeltaxen einzuführen.
Jüngster Aufreger im Kommunalwahlkampf war die Tempo-30-Debatte. Was gilt es zu beachten, wenn etwa Hauptverkehrsstraßen (Kasinostraße) neue geschwindigkeitsreduzierte Abschnitte bekommen?

Die Kasinostraße ist für mich auch in Vorlesungen ein Beispiel, wie es gerade nicht sein soll: Die Funktionen, die diese Straße zu erfüllen hat, sind nicht miteinander verträglich. Sie ist einerseits eine angebaute Straße mit Anliegern, die ihre Schutzbedürfnisse haben, und andererseits – auch formal – eine Bundesstraße mit überregionaler Verbindungsfunktion. Auch nach unserem Regelwerk im Straßen- und Verkehrswesen passt das so nicht zusammen. Planerisch ist hier also offensichtlich über die Jahrzehnte hinweg etwas schiefgelaufen.


Und eine Umgehungsstraße?

Irgendeine Umgehungsstraße ist in Darmstadt ja schon lange politisch nicht gewollt, und die Situation jetzt ist zumindest zum Teil auch eine Folge davon. Ich kann es vollkommen nachvollziehen, wenn man sagt, dass die Anlieger vom Lärm entlastet werden müssen. Zu beachten ist bei solchen Geschwindigkeitsbeschränkungen einerseits, dass sie auch den gewünschten Effekt haben, also die Lärmbelastung für die Anlieger spürbar, um mindestens 3 dB(A), verringern. Andererseits darf eben nicht wieder nur ein einzelnes Kriterium herangezogen werden, in diesem Fall die Lärmbelastung für die Anlieger.

Welche Auswirkungen haben neue Geschwindigkeitsbegrenzungen – vermindern sie die Kapazität?

Sie haben zunächst einmal eine Harmonisierungsfunktion, die aber vor allem bei höheren Geschwindigkeiten ihre Wirkung entfaltet. Wir kennen das auf Autobahnen von den Streckenbeeinflussungsanlagen, die variable Geschwindigkeiten vorgeben. Dieser Effekt ist im Stadtverkehr nicht so stark ausgeprägt. Die Kapazität von Stadtstraßen wird durch Tempo 30 in der Regel nicht beeinträchtigt, weil dafür eher die Knotenpunkte maßgebend sind.

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